Mitbegründer der bundesdeutschen Sektion der IPPNW, Psychoanalytiker, ehem. Direktor des Sigmund-Freud-Institutes, erster Geschäftsführer und Sprecher der bundesdeutschen IPPNW, Ehrenvorstandsmitglied der deutschen IPPNW.
Am 28. April 1923 in Berlin geboren, wuchs Horst-Eberhard Richter als Einzelkind eines leitenden Ingenieurs auf. Nach Hitlerjugend und Arbeitsdienst wurde er achtzehnjährig zum Militär eingezogen und diente in einem Artillerieregiment an der Russlandfront. Kurz vor der Verlegung seiner Truppe nach Stalingrad erkrankte er an einer lebensgefährlichen Diphtherie. Mit 22 Jahren gerät er in Kriegsgefangenschaft und erfährt erst bei seiner Rückkehr vom Tod seiner Eltern, die zwei Monate nach Kriegsende auf einem Spaziergang nahe ihres Dorfes von zwei betrunkenen Russen ermordet wurden.
1962 übernimmt Richter einen der ersten deutschen Lehrstühle für Psychosomatik an der Universität Gießen und baut die Abteilung zu einem führenden Zentrum für psychosomatische Medizin auf. Seine ersten Bücher werden zu international anerkannten Klassikern psychoanalytischer Literatur, in denen Richter ein neues Verständnis familiär verursachter Neurosen erarbeitet. Für Richter ist Psychoanalyse nicht nur eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode, sondern, und vielleicht zuallererst, ein Instrument der Aufklärung einer sich sozialanalytisch begreifenden Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft. Allein in den Jahren 1972 bis 1981 schreibt er die fünf Bücher, die diese neue Ära seines ganzheitlichen Konzeptes von Psychoanalyse einleiteten und die zur Pflichtlektüre für eine breite Schicht politisch aufgeklärter Bürger werden.
Zweifellos hat der Aufbruch der Studentenbewegung Anfang der 70er Jahre seinem Handeln wichtige Impulse verliehen. Der Gesundheitspolitiker Ellis Huber meinte zu ihm: "Horst-Eberhard Richters Bücher begleiteten die Erkenntnis- und Veränderungs-Prozesse meiner Generation in der Gesundheits- und Sozialarbeit. Immer wenn Fragen nach dem richtigen Weg auftauchten, wenn Ziele unklar wurden, Ohnmacht uns entmutigte oder Übermut uns gefährdete, erschien rechtzeitig von ihm ein neues Werk, das Horizonte aufzeigte und mehr Klarheit stiftete. Ich selbst bin mit diesen fachlichen wie menschlichen Lotsendiensten gesundheitspolitisch erwachsen und auch medizinpolitisch von Jahr zu Jahr mutiger geworden."
Gestützt auf kompetente Vertreter in der Klinik, verließ Richter immer öfter seinen dort angestammten Platz, um mit sozialen Randgruppen zu arbeiten, mit Schülern und Studenten zu diskutieren und an Demonstrationen und Sitzblockaden teilzunehmen; er wird Mitbegründer der bundesdeutschen Sektion der IPPNW des Atomkrieges", redete mit Politikern, beriet sie, und erhob seine Stimme landauf, landab.
Richter referierte auch bei internationalen Kongressen, beispielsweise über "Psychologische Auswirkungen des Lebens unter der Atomkriegsdrohung" (Cambridge 1982), "The Physicians Role in the Prevention of Nuclear War" (Moskau, 1985) und "The Danger and Prevention of Nuclear War" (Washington, 1986). In Deutschland fanden seine Beiträge 1981 beim Kongress der bundesdeutschen Ärzte- und Basisinitiativen "Sind wir zum Frieden fähig?" und "Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft" große Medienwirkung. Er ist seit dieser Zeit begehrter Referent und Visionär an führender Stelle immer dabei.
Als bereits im Februar 1982 zur Gründung einer bundesdeutschen Sektion nach Frankfurt/Main eingeladen wurde, sprach man von Spaltung der Ärztebewegung, weil die Basisinitiativen bereits im Januar gegen einem vereinsmäßigen überregionalen Dachverband ausgesprochen hatten. In dieser schwierigen Situation zeigte Richter seine analytische Fähigkeit und seine sensible politische Begabung: Er ging mit KollegInnen aus den Ärzteinitiativen zur Gründungsversammlung und beeinflusste die politische und inhaltliche Richtung dieser bundesdeutschen IPPNW von Anfang an in Basisdemokratie und kollegialen Miteinanders. Eine Vereinsgründung fand zunächst nicht statt, sondern die als loser Zusammenschluss gegründete bundesdeutsche IPPNW diente der Verbindung zwischen der internationalen Föderation und den nationalen Aktivitäten. Die Ärzteinitiativen arbeiteten weiterhin autonom als eigenständige regionale Initiativen.
Richter übernahm freiwillig die Arbeit der ersten Geschäftsstelle in Gießen und wurde neben Ulrich Gottstein, Helmut Koch und Knut Sroka in den ersten Sprecherrat der bundesdeutschen IPPNW gewählt. Er verfasste die berühmte "Frankfurter Erklärung", in der jeder mit seiner Unterschrift sich dazu bekannte, sich jeglicher kriegsmedizinischen Schulung und Fortbildung zu verweigern. In etwas abgewandelter Form als "New Physicians Oath" wurde die Erklärung, nachdem sie Richter auf dem 2. IPPNW-Weltkongress in Cambridge eingebracht hatte, von der Weltföderation übernommen
In seinem autobiographischem Buch "Wanderer zwischen den Fronten" beschrieb Richter sein Ziel bei der IPPNW: "Im Unterschied zu anderen IPPNW-Ärzten, die vor allem mit dem Mitteln der medizinischen Aufklärung über die verheerenden Wirkung der Nuklearwaffen gegen die Rüstungspolitik protestierten, widmete ich mich in den eigenen Reden mehr der psychologischen Aufgabe, die Bedrohungs- durch eine Verständigungspolitik zu ersetzen. Der Wille der Menschen, über die Grenzen hinweg friedlich zu koopererien, sei ebenso zu fördern, wie man anerkennen müsse, dass die Angst vor der horrenden Zerstörungsgewalt der nuklearen Arsenale nichts mit Feigheit oder Mangel an Verteidigungsbereitschaft zu tun habe, sondern eine gesunde Signal-Reaktion gegenüber der Strategie des atomaren Wahnsinns darstelle."
Auf dem 2. Medizinischen Kongress zur Verhinderung des Atomkriegs in Berlin 1982 äußerte Richter "Zum Streit um die ärztliche Verantwortung unter der Atomkriegsdrohung": "Ich zweifle indessen sehr, ob wir auf diese Weise schon genug täten. Denn mit dieser Art der Wirksamkeit verblieben wir immer noch im Rahmen der zuvor so benannten "moralteiligen" Gesellschaft. Das große Publikum nimmt es noch als normal hin, wenn Kirchenleute, Schriftsteller und nun auch Ärzte Ach und Weh über die Atomrüstung klagen. Das sind herausgehobene Gruppen, an welche die Gesellschaft traditionellerweise Gewissensaspekte abgetreten hat. Natürlich gehört es sich..., dass die Ärzte das Publikum an die furchtbare medizinische Überforderung erinnern, die ein Atomkrieg bedeuten würde. Solange Seelsorger, Schriftsteller und Mediziner sich auf verbales Mahnen beschränken, findet man ihr Auftreten ganz in Ordnung, ja paradoxerweise zum Teil tröstlich... Es geht darum, unsere unmittelbare politische Mitverantwortung in der Weise sichtbar zu machen, dass wir die künstlich getrennten Rollen als Mediziner und als politische Bürger vereinen und damit auch die Menschen in unserer Umgebung dazu anregen, gegenüber den allgemeinen Grundfragen ein ganzheitliches Denken und verantwortliches Handeln zu entwickeln."
Diesen Gedanken vertieft Richter in seinem Beitrag "Angst, Hoffnung, Widerstand" (1984) indem er zum Widerstand aufruft, als Antwort auf "die narzisstische Angst", seine Bezeichnung für die Angst vor sich selbst, die er hinter das Sichselbstbedrohen durch Raketen sieht. Anstatt ihren Protest "gettoisieren" zu lassen durch die Erlaubnis in der Gesellschaft über die Atomrüstung "jammernd Luft zu machen" sollten die Ärzte Widerstand leisten: "Daher die Bereitschaft zu dem Widerstand, dessen Weg die "Frankfurter Erklärung" vorzeichnet. Wie viele andere Gruppen der Friedensbewegung wollen wir praktisch einen umfassenden Prozess der gesellschaftlichen Militarisierung stören, wo wir als Ärzte in seine Mechanismen eingeschaltet sind. Die Tausende von Kollegen, die hinter der "Frankfurter Erklärung" stehen, werden nicht zögern, einem in Vorbereitung befindlichen Zivilschutzgesetz dort entschlossen entgegenzutreten, wo es unserer Bevölkerung die fatale Illusion vermittelt, wir könnten in unserem Land einen Krieg, der nach den gültigen strategischen Konzepten mit Sicherheit ein Nuklearkrieg sein würde, durch ein noch so subtil durchdachtes Schutzprogramm überleben."
Richter sieht ärztliches Verhalten immer politisch. Für ihn ist überflüssig zu sagen, welch immens politischen Faktor der angeblich unpolitische Arzt darstellt, der sich auf reine Medizin zurückzuziehen glaubt und damit ermöglicht, dass jede Politik mit seiner Toleranz gemacht werden kann. Die prinzipielle Verpflichtung aller ÄrztInnen ist, Leben zu schützen und nicht politische Systeme. Die Ärztin und der Arzt dürfen der Obrigkeit nicht zur Verfügung stehen. Für Richter muss Medizin im Sinne ihrer lebenserhaltenden Aufgabe pazifistisch sein. Kriege sind für ihn keine Naturereignisse und keine der menschlichen Existenz inhärente Konstante. Er bestreitet die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus aggressiv mit der Argumentation, der Mensch sei im Gegensatz zum Tier in der Lage, seine aggressiven Impulse in sozial unschädliche Bahnen zu lenken: "Wir Ärzte gehen jedenfalls offensichtlich seit je davon aus, dass unsere Berufsgruppe keinem natürlichen Zwang zu destruktiven Verhaltensweise unterliege. Denn wie sonst könnten wir den hippokratischen Eid als eine uns praktisch verpflichtende Norm ansehen!"
Auch der Begriff "Ärzte in sozialer Verantwortung", der seit dem Zusammenschluss der beiden deutschen Sektionen im März 1991 als Namenserweiterung beschlossen wurde, wird durch Richters Ideen mit Leben gefüllt, nicht zuletzt durch das seit 1994 neu in der IPPNW aufgenommene Thema "Medizin und Gewissen", das bei den Kongressen in
Nürnberg 1996 und
Erlangen 2001 viele Medienaufmerksamkeit gewinnt. In seiner Rede "Medizin und Gewissen" (Nürnberg 1996) vergleicht er zwischen dem Arzt als Täter im Dritten Reich, wenn die soziale Verantwortung durch die Ärzteschaft pervertiert wird, und dem Gewissen für MedizinerInnen als "die ursprüngliche Quelle des Mitfühlens und einem unüberhörbaren Ansporn zum Helfen. "Das ist die innere Notwendigkeit, gefühlsmäßig an dem Leiden des Anderen Anteil zu nehmen, verbunden unmittelbar mit dem Drang, ihm beizustehen. Im Gewissen steckt eine kategorische Mahnung, aber gleichzeitig ist es ein Wegweiser zu einer tiefen Befriedigung, zur Genugtuung nämlich, wenn das angespornte Helfen stattfinden kann." Zudem mahnt er vor einer weiteren Pervertierung der sozialen Verantwortung des Arztes durch die Gentechnik, die den "Allmachtsanspruch einer Gesellschaft auf perfekte Leidfreiheit" dienen könnte.
Richter entwarf zusammen mit Huber die erste Fassung der Nürnberger Erklärung, die nach mehreren Überarbeitungen dem Kongress "Medizin und Gewissen" zur Diskussion gestellt wurde. Schließlich wurde diese Erklärung der Basis für den
"Nürnberger Kodex 1997".
Nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wurde die Friedensbewegung von den Medien für tot erklärt, trotz Demonstrationen und Proteste. Richter organisierte mit anderen Mitgliedern und MitarbeiterInnen der IPPNW den Kongress "Kultur des Friedens" als Antwort darauf und zeigte durch die hohe Teilnehmerzahl und Exzellenz der inhaltlichen Referate, dass die Friedensbewegung in Deutschland sich gewandelt hat aber keineswegs gestorben ist.
Niemand hat die bundesdeutsche Ärztebewegung für die Verhütung des Atomkriegs mit seinen Gedanken, Analysen, Reden, Aufrufen, Workshops und Aktivitäten so beeinflusst wie Horst-Eberhard Richter.
Quellen:
"Zum Streit um die ärztliche Verantwortung unter der Atomkriegsdrohung" von Horst-Eberhard Richter, Beitrag auf dem 2. Medizinischen Kongress zur Verhinderung des Atomkriegs", Berlin 1982
"Angst, Hoffnung, Widerstand", Richter, Horst-Eberhard, in: Bastian, Till (Hrsg.) "Friedensnobelpreis für 140.000 Ärzte. Dokumente aus der medizinischen Friedensbewegung", Hamburg 1985
"Was können, was sollen die "Friedensärzte" für den Frieden tun?", Richter, Horst-Eberhard, Rede auf der Mitgliederversammlung der deutschen IPPNW, 1992
"Die IPPNW - eine "Pro"-Bewegung", Richter, Horst-Eberhard, Rede auf der Mitgliederversammlung der deutschen IPPNW, 1996
"Medizin und Gewissen", Richter, Horst-Eberhard, in: "Medizin und Gewissen", IPPNW (Hrsg.), Berlin 1998
"Das Harte unterliegt" von Horst Petri; "Sehner, Mahner, Visionär und Pazifist" von Barbara Hövener und Michael Roelen; "Unser Lotse in den Wirrnissen der Verhältnisse" von Ellis Huber: in "Horst-Eberhard Richter und die IPPNW. Zum 75. Geburtstag", Steffen, IPPNW (Hrsg.), Berlin 1998
"Wanderer zwischen den Fronten." Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.